Johanna Richter – Gustav Mahler und Königsberg

Notiz:

 

Gustav Mahler und Königsberg: Gibt es da überhaupt Nennenswertes zu berichten? Wer heute die Mahlerschen Sinfonien und Lieder zum selbstverständlichen Bestand der spätromantischen Epoche rechnet, darf nicht aus dem Auge verlieren, dass  - zumindest in Deutschland - die Renaissance dieses Komponisten eigentlich erst in den sechziger Jahren des letzten Jahrhunderts einsetzte. Zu Lebzeiten war Mahler als Komponist (nicht als Dirigent) heftig umstritten oder wurde vielerorts überhaupt nicht zur Kenntnis genommen.

Königsberg fügt sich in dieses Bild. Hier kam erschwerend ein musikalisches Klima hinzu, das Otto Besch 1925 in der Zeitschrift „Die Musik“ so umriss: „Übertriebener Konservativismus ist den hiesigen musikalischen Kreisen seit Jahrzehnten zur zweiten Natur geworden.“ „Seit Jahrzehnten“ hatte der Kritiker Gustav Doempke die Deutungshoheit in musikalischen Angelegenheiten. Er vertrat seine konservativen Ansichten seit 1887 zuerst in der Königsberger Allgemeinen Zeitung, ab 1897 bis zu seinem Tode 1923 in der Hartungschen Zeitung. Obwohl er viele Königsberger der Musik näherbrachte, hat sein retardierender und musikalisch-reaktionärer Einfluss dem Musikleben der Provinzhauptstadt nicht gutgetan.

Auf die Königsberger Rezeption Gustav Mahlers bezogen verwundert es daher nicht, dass zu seinen Lebzeiten (Mahler starb am 18. Mai 1911) gar keine und bis zum Ersten Weltkrieg nur zwei seiner Sinfonien aufgeführt wurden: die zweite am 15. Dezember 1911 und die achte am 1. Dezember 1913, beide vom Königsberger Musikverein unter Paul Scheinpflug. Max Brode hat Mahler in seinen Königsberger Sinfoniekonzerten nicht berücksichtigt, dagegen hat Wilhelm Sieben im Rahmen dieser Konzerte Mahlers Erste ("Der Titan") am 21. Februar 1919 zur Königsberger Erstaufführung gebracht. Die "Lieder eines fahrenden Gesellen" waren in Königsberg unmittelbar vor dem 27. Juni 1919 (Datum der Kritik vob Gustav Doempke in der Hartungschen Zeitung) mit Ludwig Heß als Solisten wohl zum ersten Male zu hören. Anfang 1924 dirigierte Claus Nettstraeter im Rahmen der Sinfoniekonzerte Mahlers siebte Sinfonie als Königsberger Erstaufführung ("Das Werk wurde beim Publikum mit geteilten Meinungen aufgenommen." Otto Besch in der Zeitschrift Die Musik 1924/04, S. 521); Ende des Jahres brachte Ernst Kunwald zum ersten Male das Lied von der Erde mit Lula Mysz-Gmeiner und Ludwig Heß als Solisten. Am Ende der zwanziger Jahre erschien nach Erwin Krolls Angaben Mahler wieder auf dem Programm, als Hermann Scherchen in Königsberg wirkte.

Daneben gibt es zwei nennenswerte Umstände, die Mahler mit Königsberg verbinden. Zuerst ist Ernst Otto Nodnagel zu nennen, der Mahler publizistisch durch Zeitschriftartikel und Monografien über seine Sinfonien unterstützte. Das begann schon vor Nodnagels Königsberger Zeit (1899–1903) und erlebte seinen Höhepunkt danach. Außer gelegentlichen Erwähnungen des Komponisten in seinen Konzertkritiken für die Ostpreußische Zeitung hat Nodnagel seine Einführung in Mahlers 2. Sinfonie in Königsberg geschrieben (erschienen 1903 in der Zeitschrift „Die Musik“; auch als Sonderdruck veröffentlicht). Besonders ist hier natürlich Nodnagels wichtigste Musikpublikation zu nennen, sein Buch „Jenseits von Wagner und Liszt“, das er in Königsberg geschrieben hat und 1902 als op. 35 im Ostpreußischen Verlag Königsberg zum Druck brachte. Darin ist Mahler ein ganzes Kapitel ("Profil") gewidmet, das an anderer Stelle dieses Portals im Wortlaut erreicht werden kann.

Der Anlass für diesen Beitrag ist anderer, noch früher gelegener: Seit der Spielzeit 1892/93 gehörte Johanna Richter drei Jahre dem Ensemble des Königsberger Stadttheaters an.

Neuer Theater-Almanach 1893, S. 364
(Sängerinnen des Königsberger Stadttheaters)

Der Mahler-Forscher Michael Bosworth, z. Zt. Hanoi, wies mich auf das Königsberger Engagement von Johanna Richter hin. Deren Leben liegt noch weitgehend im Dunkeln, aber ein Umstand ist weithin bekannt: Als Mahler von 1883 bis 1885 in Kassel Kapellmeister und Chorleiter war, traf er dort die junge Sopranistin und verliebte sich; die Liebe blieb einseitig. Der 23-jährige Mahler schrieb Gedichte und vertonte sie zuerst als Klavier-, später als Orchesterlieder. Sie wurden unter dem Titel „Lieder eines fahrenden Gesellen“ das erste Mahler-Werk von Rang und gehören heute zum Kernrepertoire jedes ambitionierten Baritons. Sie drücken den Seelenzustand eines jungen Mannes aus, den seine unerwiderte Liebe fast zerreißt.

Hier zwei Textauszüge, das dritte Lied vollständig und die erste Strophe des letzten Liedes:

3.) Ich hab' ein glühend Messer,
Ein Messer in meiner Brust,
O weh! Das schneid't so tief
In jede Freud' und jede Lust.
Ach, was ist das für ein böser Gast!
Nimmer hält er Ruh', nimmer hält er Rast,
Nicht bei Tag, noch bei Nacht, wenn ich schlief.
O Weh!

Wenn ich in dem Himmel seh',
Seh' ich zwei blaue Augen stehn.
O Weh! Wenn ich im gelben Felde geh',
Seh' ich von fern das blonde Haar
Im Winde wehn.
O Weh!

Wenn ich aus dem Traum auffahr'
Und höre klingen ihr silbern' Lachen,
O Weh!
Ich wollt', ich läg auf der schwarzen Bahr',
Könnt' nimmer die Augen aufmachen!

 4.) Die zwei blauen Augen von meinem Schatz,
Die haben mich in die weite Welt geschickt.
Da mußt ich Abschied nehmen vom allerliebsten Platz!
O Augen blau, warum habt ihr mich angeblickt?
Nun hab' ich ewig Leid und Grämen.

Da ist von den blonden Haaren und zweimal von den blauen Augen seines Schatzes die Rede. Mahlerforscher haben deshalb immer wieder – vergeblich – versucht, eine Abbildung von Johanna Richter zu entdecken, aktuell Michael Bosworth, davor beispielsweise Jens Malte Fischer, der in seiner Mahler-Biografie (Gustav Mahler. Der fremde Vertraute. Wien 2003. S. 161) schreibt:

Wir wissen nicht viel über sie, es existiert nicht einmal ein Bild von ihr, und so können wir nicht nachprüfen, ob die Behauptung, sie sei eine ausgesprochene Schönheit gewesen, berechtigt ist, wollen es aber gerne glauben, denn Mahlers Empfänglichkeit für weibliche Schönheit läßt sich am einfachsten am Gesicht der jungen Alma Schindler ablesen und auch an allen andern Damen, mit denen ihn etwas verband.

Was sich neben Kassel und Königsberg im Leben der Johanna Richter ereignete, lässt sich teilweise rekonstruieren. Danach soll sie aus Ost- oder Westpreußen stammen, von Königsberg nach Danzig gegangen und dort hochbetagt gestorben sein. Einige Engagements lassen sich aber nachweisen::

  • 1881/82: Mainz
  • 1882/83: Bremen
  • 1883/84-85/86: Kassel
  • 1886/87: Große Deutsche Oper Rotterdam
  • 1887/88-89/90: Stadttheater Köln
  • O. G. Flüggen: Biographisches Bühnen-Lexikon der Deutschen Theater. München 1892 führt auf S. 257 an, dass Johanna Richter in der Spielzeit 1891/92 am Stadttheater Chemnitz engagiert war. Der Neue Theater-Almanach 1892 bestätigt diesen Sachverhalt (S. 222) und präzisiert, sie sei "a. G. f. d. S." (als Gast für diese Spielzeit) tätig gewesen.
  • 1892-1895: Königsberg
  • Am Stadttheater Danzig wird sie von 1896/97 bis 1899/1900 unter den Ensemblemitgliedern aufgeführt (Neuer Theater-Almanach).

[Die Angaben bis 1890 verdanke ich Herrn Paul S. Ulrich, Berlin]

Johanna Richters Zeit in Königsberg hat sich bisher nicht weiter mit Substanz füllen lassen. Theaterzettel scheint es nicht mehr zu geben; vielleicht hilft die Durchsicht der noch vorhandenen betreffenden Zeitungsjahrgänge, vor allem der Hartungschen Zeitung. Da wüsste man wenigstens, in welchen Rollen sie aufgetreten ist. Ihr Rollenfach zumindest ist bekannt: Ernst Moser bezeichnet sie in seiner Königsberger Theatergeschichte als "Coloratursängerin" (S. 179).