Dass Ernst Otto Nodnagel die künstlerische Bedeutung Gustav Mahlers früh erkannt und publizistisch unterstützt hat, ist zwar nicht allgemein, aber doch weithin bekannt. Fast unbekannt ist die Tatsache, dass Nodnagel die wohl früheste allgemeine Würdigung Mahlers geschrieben hat, und zwar in Königsberg, wo 1902 auch die Publikation im Rahmen seines Buchs Jenseits von Wagner und Liszt bei der Ostpreußischen Druck- und Verlagsanstalt erfolgte; Grund genug, Nodnagels Text in diesem Portal wieder zugänglich zu machen, zumal nur noch wenige Exemplare in deutschen Bibliotheken nachweisbar sind und ein Digitalisat im Netz (noch) nicht zur Verfügung steht.
Anmerkung: Das Vorwort des Buchs ist unterzeichnet:
"Königsberg i. Pr., Herbst 1901. Ernst Otto Nodnagel."
Nodnagels „Profil“ kommt deshalb eine besondere Bedeutung zu, weil es einen wichtigen Moment in der Rezeptionsgeschichte Mahlers einfängt: Erst drei Sinfonien und die frühen Lieder (Lieder eines fahrenden Gesellen, Lieder aus Des Knaben Wunderhorn) waren veröffentlicht, die 3. Sinfonie nur in Teilen aufgeführt. Mahlers Durchbruch in weiten Fachkreisen gelang mit den Aufführungen der 3. und 2. Sinfonie im Rahmen der Tonkünstler-Versammlungen 1902 in Krefeld bzw. 1903 in Basel, nach der Veröffentlichung von Nodnagels Buch.
Nodnagel und Mahler kannten sich, korrespondierten auch miteinander. Über die Uraufführung der 1. Sinfonie in Weimar hatte Nodnagel 1894 Zeitungskritiken geschrieben, zur 2., 3. und 5. Sinfonie verfasste er längere Einführungen (s. Werkverzeichnis). Die 4. Sinfonie würdigte er in einem Anhang seines Buches (S. 185ff.); sie war ihm offensichtlich zugänglich geworden, nachdem er sein "Profil" über Mahler bereits abgeschlossen hatte.
Nodnagels Verhältnis zu Mahler war zu Beginn durchaus kritisch distanziert, vor allem wegen der von Mahler seinen Werken nachträglich beigegebenen „Programme“. Nodnagel dagegen sprach bei seinen eigenen Werken von „Symbolien“ und schlug vor, Mahlers Sinfonien über „Schlüssel“ näher zu treten. In dem Maße nun, wie Mahler sich schrittweise von einer seiner Musik unterlegten Programmatik lossagte und dabei auch an Nodnagels Mittelweg der Symbolie vorbeizog, wurde das Verhältnis der beiden kritischer und von Mahler schließlich beendet.
Ein höchst interessanter Nebenaspekt, der im Rahmen dieses Portals allerdings unberücksichtigt bleibt, ist, dass Nodnagel eine erweiterte Neuauflage seines Buchs von 1902 plante. In seinem Nachlass liegen ausführliche undatierte Anmerkungen, Verbesserungen und Erweiterungen vor, die dem Stand von etwa 1905 entsprechen. Sie spiegeln wider, dass Mahler inzwischen einige Anerkennung als Komponist gefunden hatte, ebenso, dass Nodnagel manches anders einordnete als noch 1902. Gerade der Vergleich der beiden Fassungen des „Profils“ könnte der heutigen Mahlerforschung beachtenswerte Hinweise geben.
Nodnagels erste Fassung des Mahler-Profils ist hier transkribiert zu erreichen.
Anmerkung zu einem Detail:
Nodnagel schreibt (S. 3) über die Uraufführung der 1. Sinfonie Mahlers:
Als ich nach jener Weimarer Aufführung in meinen Berichten für das "Berliner Tageblatt" und für das "Magazin für Litteratur" die D-dur-Sinfonie einer energisch ablehnenden Besprechung unterzog, erkannte ich eine Reihe wirklich hervorragend schöner Einzelheiten, sowie zahlreiche eigenartige und frappierend neue Orchesterwirkungen an. Der Gesichtspunkt, aus dem heraus es zu einer Verurteilung des Werkes kommen mußte, war der symbolistische. Das Werk trat mit der Prätension auf, als Programmmusik aufgefaßt zu werden. Die Beurteilung konnte sich mithin nicht allein auf die Musik begründen, sondern mußte auch das "Programm" auf seinen Wert hin untersuchen.
In Nodnagels erwähntem Beitrag für das Magazin für Litteratur kann von einer "energisch ablehnenden Besprechung" nicht die Rede sein; Nodnagel berichtet spartanisch knapp; der Text enthält lediglich eine kleine persönliche Bemerkung, die beim besten Willen nicht als "Verurteilung" verstanden werden kann, wie das folgende Zitat beweist [Magazin für Litteratur. 63 (1894). Nr. 26. Sp. 807]:
[Dank an Andrea Ulshöfer, Bonn, für die Beschaffung der Scan-Datei.]
Nodnagels Bild von Gustav Mahler war einem ständigen Wandel unterworfen. Einerseits wurde mit jedem neuen Werk Mahlers dessen Entwicklung deutlich, zum anderen machte Nodnagel selbst einen Reifungsprozess durch. Wie Nodnagel Mahler Anfang 1905, nach dem Erscheinen der 5. Sinfonie, sah, zeigt ein Beitrag in der Zeitschrift Kunstwart (bibliografische Angaben unter Werkverzeichnis Nodnagel), von dem hier ein Digitalisat erreicht werden kann [Frdl. Hinweis von Michael Bosworth, Hanoi].
Ein weiterer früherer Bezug Mahlers zu Königsberg ist in dem kleinen Beitrag über Johanna Richter zu finden.