Ernst Otto Nodnagel: Roman – Textauszug

Erläuterung

Drei Roman-Episoden wurden ausgewählt, die für sich genommen – gleichsam als Geschichte in der Geschichte – abgeschlossen sind. Es geht um mehrere Besuche im russischen Grenzstädtchen Kibarty. Die Erzählung beginnt damit, dass der Protagonist Andreas Marolt – Nodnagels Alter Ego – auf dem Landratsamt Stallupönen einen Passierschein beantragt, der ihn berechtigt, Kibarty im kleinen Grenzverkehr von der deutschen Grenzstadt Eydtkuhnen auf dem Fußweg zu erreichen.

Es werden auch einige Romanfiguren aus Stallupönen und Eydtkuhnen erwähnt, die in der getroffenen Textauswahl aber keine bedeutende Rolle spielen.

Roman-Manuskript – Kapitel VIII – Anfang
(Westfälisches Musikarchiv Hagen)

Aus dem VIII. Kapitel

Da Andreas seinen Gesangunterricht Dienstag und Freitag zu geben hatte, ergab sich die Notwendigkeit, für etwaigen Eydtkuhnenbedarf sich Montag und Donnerstag frei zu halten, ein Arrangement mit dem die beiden Schwestern Karlchens ganz einverstanden waren. Auch die Liedertafelproben, deren Zahl vor dem geplanten Konzert verdoppelt werden sollte, wurden vorläufig auf Dienstag und Freitag gelegt. Die beiden Knaben, Erwin Bromkat und Gerd Purowski, gingen zur Schule, da ergab sich naturgemäß für diese Mittwoch und Sonnabend als die angemessenen Stundentage. So beschloß denn Andreas, gleich am Montag „nach Rußland zu gehen“ und die ihm übersandten Empfehlungen an ihre Adresse zu befördern. So spazierte er denn bei Zeiten auf das kgl. Landratamt, um sich die für den Grenzverkehr innerhalb einer begrenzten Zone legitimierende Paßkarte ausstellen zu lassen. Da er darauf eine Viertelstunde früher, als nach der Durchschnittsberechnung aus den Angabe der drei Uhrmacherschaufensteruhren nötig gewesen wäre, auf den Bahnhof ging, so gelang es ihm gerade bequem, den Zug zu erreichen. In Eydtkuhnen angelangt, schlug er die sonnige Hauptstraße in entgegengesetzter Richtung als neulich ein. In sanftem Anstieg gelangte er zu dem preußischen Zollhäuschen, wo dann ein grünuniformierter Beamter schlaff auf einer Bank lehnte. Über das kleine, die Grenze bezeichnende Gewässer führte eine Brücke und jenseits stand neben dem Schlagbaum ein militärischer Posten. Der wies ihn zu dem hölzernen Grenzgebäude, vor dessen Thür auf einer Art Veranda etliche andere Grenzsoldaten lungerten; einen von ihnen nahm Andreas in Empfang und führte ihn in die Wachtstube, die infernalisch parfümiert war. Eine Art Unteroffizier, der ziemlich kurz angebunden war, nahm ihm die Paßkarte ab. Auf seine etwas ängstliche Frage, ob er die Karte nicht wiederbekomme, ward ihn in etwas imperfekten Deutsch Bescheid, daß er sie vor der Rückreise über die Grenze hier visiert wieder in Empfang zu nehmen habe.

Preußisch-russische Grenze bei Eydtkuhnen (ca. 1870)

Nach der Wohnung des Herrn Dohrendaal, dem seine erste Empfehlung galt, getraute er sich kaum zu fragen, wie ihm überhaupt bei dem Handel etwas schwül zu werden begann. Er war jetzt ohne Legitimation. Wenn es nun irgendeinem Beamten einfiel, ihm die Ohren abzuschneiden oder unter irgendwelchem Vorwand seine Deportation nach Sibirien zu veranlassen, dann adieu Liedertafel und Tante Malchen, adieu Schützenpark und Karlchen!!

Doch er gab sich einen Ruck und fragte in freundlichem Ton die faulenzenden Grenzsoldaten. Einer zeigte ihm auch das nahe gelegene Haus und Andreas betrat es und stieg, da er im unteren Geschoß nirgend ein Namensschild oder eine Klingel fand, eine Treppe hoch. Hier wurde er eines Klingelzuges ansichtig, den er seiner Bestimmung gemäß benutzte. Thatsächlich öffnete sich nun eine Thür und vor ihm stand eine Erscheinung, die ihn erschreckte. „Wie kann man ein so schmutziges Dienstmädchen dulden!“ war der erste Gedanke, den Marolt beim Anblick der alten Person mit verwahrloster Kleidung fassen konnte. Auf seine Frage nach Herrn Dohrendaal sah er sich durch zwei apart aber wohnlich eingerichtete Gemächer in ein drittes geführt, wo er eine Gesellschaft aus sieben Personen um einen Tisch zum Mahle vereinigt fand. Die Alte sprach einige russische Worte zu einem Herrn mit grauem Bart und einer Brille auf der Nase, die ebenso rot funkelte wie die Wangen und setzte sich dann an die Spitze der Tafel. Andreas war wie vor den Kopf geschlagen, verbeugte sich aber doch, wie vorher vor der ganzen corona, so jetzt „mit dem Anstand, den er hatte“ vor dem alten Herren, der sich erhoben: „Ich habe zweifellos die Ehre, vor Herrn Baron von Dohrendaal zu stehen? Ich heiße Marolt und habe die Ehre, Ihnen dieses Billet überreichen zu dürfen. Ich bitte tausendmal um Entschuldigung, daß ich Sie bei Tische störe. So früh konnte ich darauf nicht gefaßt sein.“ Seine Uhr zeigte in Übereinstimmung mit der Bahnhofuhr, die dem Eydtkuhner Bahnhof schon ein großstädtisches Gepräge gab, ½ 12.

Baron von Dohrendaal hatte schweigend den Brief genommen, geöffnet und gelesen. Dann wandte er sich mit einem „O ich bin sehr erfreut“ an den Besucher. „Wollen Sie nicht einen Platz nehmen?“ fügte er, auf einen freien Stuhl am Ende des Tisches weisend, hinzu. „Sehr gern“, stotterte Andreas beklommen mit einem entsetzten Blick auf das unsaubere und an einigen Stellen zerrissene Tischtuch; dann fuhr er fort: „Würden Sie die Güte haben, mich den Herrschaften vorzustellen.“ Das geschah. Die alte Person, die Andreas das erste Entsetzen eingeflößt, war die Baronin, dann folgte ihre hellblonde Tochter mit blassen, scharfgeschnittenen Zügen und deren Gemahl, ein jüngerer Zollbeamter namens Kortschowski. Ein junger Gendarmerieleutnant und noch ein weiterer Zollbeamter Kopernicki, endlich ein sonderbares Ehepaar, das unter dem Namen Mr. und Madame Robert vorgestellt wurde, vervollständigte die Gesellschaft. Herr Robert war mit schäbiger Eleganz gekleidet und konnte etwa für einen gealterten Friseur angesehen werden, Madame Robert schien an ihren natürlichen Reizen, obwohl deren embarras de richesse ein erschreckend hohes Lebendgewicht vermuten ließ, nicht genug zu haben und zeigte sowohl auf den Wangen wie an den Augenwimpern das Walten einer kunstgeübten, der Natur überlegenen Hand. In einem Käfig in der Ecke kletterte noch ein possierlicher Affe als weiteres Familienmitglied auf und nieder.

Ein Blick auf den Tisch belehrte Andreas, daß man dabei war, einem gebratenen Spanferkel die letzte Ehre zu erweisen. Baron von Dohrendaal lud ihn ein, an den Tafelfreuden teilzunehmen; das corpus delicatum hatte er, wie er schmunzelnd erzählte, gestern konfisziert. Andreas kam sich wieder einmal äußerst anachronistisch vor, die freundliche Einladung lehnte er dankend ab, und nur die Frage, ob er wenigstens ein Glas Wein trinke, bejahte er. Zur Hausfrau sein gefülltes Glas neigend, nippte er dann von dem Rotwein, der sich als Kirschenschnaps – cherry brandy oder dgl. – zu erkennen gab.

Ein Gespräch kam nur sehr stockend in Gang, da die Herrschaften nicht nur sehr anstrengend beschäftigt waren, sondern auch die deutsche Sprache nur sehr mangelhaft beherrschten. Mit Französisch hatte Andreas kaum mehr Erfolg, und so ergab sich denn allmählich ein recht erbauliches Gemisch aus gebrochenem Deutsch und geradebrechten Französisch, dazwischen auch seitens der Einheimischen untereinander manches russische Wort.

Der Baron war sehr erfreut, einen Musiker kennen zu lernen. „Geben Sie auch Konzerte?“ fragte er, und als sein Gast bejahte, fuhr er fort: „Ich lieben sehr Konzerte! Sie müssen geben hier!“ Andreas meinte, daß er dies in der That beabsichtige. „O wir werden giben zusammen“, schlug der Baron vor. „Ach, Sie musizieren selbst?“ fragte der Musikdirektor erfreut. „Géwiß, ich spillen seer gutt“, lautete die stolze Erwiderung. Dann erfuhr Marolt: „Madame Robert giben auch Konzert bei uns!“ „O madame, vous êtes aussi artiste?“ fragte er überrascht. „Sie nur chanteuse de Paris und sehr malheureuse, parce qu’elle devait attendre deux ou trois jours à cause de leurs papiers.“ Der Baron war so aimable gewesen, ihr und ihrem Gatten durch Arrangement eines Konzertes für sie den unerfreulichen Aufenthalt zu erleichtern, und mercredi prochain sollte das Konzert stattfinden.

Plötzlich überraschte der Baron seinen Besucher mit der Frage: „Wollen Sie spillen nächste Mittwoch in mein Konzert?“ Andreas sah ihn perplex an. „Wollen Sie accompagner der Madame Robert?“ fragte der Hausherr wieder. „Wenn sie thun mir Gefallen, ich Ihnen helfen, wenn Sie gibben Konzert selbst!“ Das ließ sich wohl hören. Aber so leicht war die Sache nicht. „Mittwochabend bin ich leider nicht frei, da muß ich bis 7 Uhr Stunden geben.“ „O ca ne fait rien! kommen Sie später.“ „Aber da geht kein Zug!“ „Lasse ich Ihnen holen mit der voiture.“ „Aber dann ists ja viel zu spät für ein Konzert.“ „C’est égal, il faut attendre!“ „Ich hörte aber doch, die Grenze wird mit Sonnenuntergang gesperrt.“ „C’est tout à fait égal, wir machen sie wieder auf.“

„Dann ist aber doch nicht Zeit zum probieren; ich kenne doch das Programm von Madame gar nicht!“ „Ce ne fait aussi rien“, mischte sich die Französin ein, die dem Gang des Gesprächs mit angestrengter Aufmerksamkeit gefolgt war. „Je ne chanterai que chansons assez faciles pour accompagner; vouz les jouerez facilement à vista“.

Da alle Einwendungen widerlegt wurden, hatte Andreas keinen Grund, die Bitte anzuschlagen. Im Gegenteil, es konnte ihm vielleicht ganz nützlich sein, wenn er sich den Baron solchermaßen zu Dank verpflichtete. Und so ward denn beschlossen, daß Andreas am Mittwochabend um sieben Uhr von seiner Wohnung mit einem Fuhrwerk abgeholt werden solle. – Inzwischen war die Mahlzeit zu Ende gegangen und der Baron begab sich ins Nebenzimmer, während die Gesellschaft noch bei Tische sitzen blieb. Plötzlich erbrausten aus dem anderen Zimmer donnernde mächtige Klavierpassagen und ein brillantes Klavierstück begann. Man erhob sich und folgte dem Baron. Andreas wäre fast hell herausgeplatzt, als er im Salon den Hausherrn am Pianino sitzen und im Schweiße seines Angesichts eine Kurbel drehen sah. Solche brillante Technik auf „natürlichem“ Wege wäre ihm aber doch auch gar zu wunderlich erschienen.

„Nicht wahr, ich kann spillen schön?“ fragte der schweißgebadete Baron den Fachmann beim Aufstehen in stolzer Freude, und Andreas, der schon in Gedanken in Sibirien, am liebsten zu allen Sachen Ja sagte, erfüllte ihn durch ein lächelnd gespendetes Lob mit hoher Genugthuung.

Dann nahm der Schwiegersohn den Mechanismus von der Klaviatur, setzte sich nieder und überraschte Andreas, in dem er auswendig eine diesem wohlbekannte Arie aus Borodins Oper „Fürst Igor“ sang und spielte. Freilich, der russische Text dazu war Andreas neu, ebenso die drolligen Grimassen, die der mit hübscher aber ungeschulter Stimme begabte Dilettant schnitt, um die Töne herauszubringen. Endlich aber mußte Marolt aufbrechen, um seine zwei anderen Besuche zu machen.

Mittwochabend um 7 Uhr saß Andreas in einem offenen Fuhrwerk, das ihn in schlankem Trab auf der Landstraße der Grenze entgegenführte. Er lehnte bequem in den Lederpolstern des nicht gerade eleganten Wagens und freute sich der kühlen Nacht, die der Vollmond mit mildem grünlichem Silber licht durchstrahlte. Milchig schimmerten die Felder und auf den Blättern der Bäume am Straßenrand lag es wie lichter Reif. Unterwegs donnerte ein Schnellzug an ihm vorüber, dessen Maschine Tausende rotglühender Funken in den tiefdunkelblauen Himmel spie, die in langer Reihe langsam über dem Zug verschwebten. Und trotz des Wagenknarrens fühlte Andreas sich von der Stille ländlicher Einsamkeit wundersam eingesponnen.

Über einzelne Gutsgehöfte und durch Dörfer führte die gutgepflegte Straße. Hunde wurden hie und da rebellisch, ab und zu wurde auch der melancholische Ruf irgendeines Stückes Rindvieh vernehmbar. Bei der Einfahrt in eines der Dörfer kam der Wagen der Namenstafel nahe genug, daß Andreas bei dem klaren Mondlicht den Namen des Nestes lesen konnte. Er traute allerdings seinen Augen nicht und fragte und fragte erst noch einmal den Roßlenker, aber es blieb dabei: im Lande des „Spiritusrings“ und des „ostpreußischen Maitrunkes“ war wie zum Hohn ein Dorf Absteinen geheißen. Dieser merkwürdige lucus a non lucendo gab dem einsam durch das matt erhellte Flachland Fahrenden Stoff zu großer Heiterkeit. Schneller als gedacht war dann Eydtkuhnen erreicht, dessen zwei rote Kirchtürme mit dem Schieferdach von blaßbläulichen Mondstrahlen umsponnen waren. An der Grenze mußte gehalten werden bis der Schlagbaum aufgethan war. Ein Paß wurde Andreas nicht abverlangt, wohl aber ward jeder Winkel und jedes Polster des Wagens auf Contrebande untersucht, und als Andreas sich darüber wunderte, da doch ein Zollbeamter ihn bekanntlich holen lasse, ward ihm bedeutet, nicht seinetwegen finde die Visitation statt, sondern um zu verhindern, daß der Kutscher schmuggele. Kurz hinter dem Bahnübergang hielt der Wagen vor einer Art Kutscherkneipe. Es war das Hotel Wolff, und alsbald erschien Baron Dohrendaals Schwiegersohn, um ihn in den Saal zu führen. Das Konzert hatte schon begonnen, raunte der ihm zu und beim Betreten des nicht sehr hohen und geräumigen, aber vollbesetzten Saales erlebte Andreas, der sich eigentlich beim Verlassen Berlins den selben Grundsatz eingeprägt wie einige Jahre vorher, als er nach Berlin kam, den Grundsatz Nil admirari . Der solchermaßen blasierte Andreas Marolt erlebte eine Überraschung, die ihn einen Augenblick fast des Gebrauches seiner Sprachwerkzeuge beraubte. Auf der Bühne stand Herr Robert, bekleidet mit Trikots, kurzen bunten Pluderhöschen und allerhand Flitterkram, eifrig damit beschäftigt, etliche Tafelbestecke, Teller, Messer und Gabeln aus der Luft zu greifen und wieder in die Höhe zu werfen, wobei auf seiner Nase eine Pfauenfeder aufrecht balancierte. Wie ein Tisch mit allerhand Gerätschaften vermuten ließ, hatte Monsieur Robert schon allerhand solch angenehmer Kurzweil getrieben. Aus der Kulisse einer Walddekoration, in deren Mitte ein Flügel stand, strahlte Baron Dohrendaals rotschimmerndes Antlitz hervor. Als er des Ankömmlings ansichtig ward, schritt er mit knarrenden Stiefeln auf den Fußspitzen um den konzertierenden Künstler herum ein knarrendes Leiterchen herab, geradeweges auf Andreas zu, den er laut begrüßte und ohne Umstände bat, ihm zu folgen. Und den Weg den er herabgekommen, führte er den Musiker jetzt hinauf und in die Kulisse. Dort wurde Andreas plötzlich von einem Schwindel gefaßt ob des Anblicks, der seiner harrte. Madame Robert war in full dress, d. h. oben hatte sie gar nichts an und unten nicht genug. In verschwenderischer Fülle bot sie den Blicken ihre – Hochherzigkeit, ihren embarras de richesse von Reizen, die durch ihre Maßlosigkeit abstumpften; das ausgepackte rotseidene Fähnchen war an einer Corsage befestigt, deren immerhin hochbeträchtlicher mittlerer Querschnitt vielleicht ein Zehntel so groß sein mochte als der obere oder untere. Da Seide bekanntlich zu den kostspieligsten Kleidungsstoffen gehört, so war an ihr in einer Weise gespart, die in entschiedenem Mißverhältnis zu den sonstigen Extravaganzen der Verschwendung stand: Knapp bis zu den Knieen reichte das verschämte Kleidungsstück, so erkennen lassend, daß auch das Riesenmaß der Kniegürtel weit übermenschlich hinausragte. Offenbar war Baron Dohrendaal von der Ansicht durchdrungen, daß der Anblick der ganzen Herrlichkeiten zu blendend und sinnbethörend sein müsse, suchte darum immer einen möglichst großen Teil mit eigenen Händen zu verhüllen und machte dazu ein Gesicht wie ein Pavian, der Theologie studiert. Andreas bat den Baron um einen Schnaps auf den Schrecken, und siehe, der Fall schien vorgesehen, wenigstens stand eine Flasche südrussischen Kognaks nebst diversen Gläschen bereit. Was seiner jetzt noch wartete, davon konnte sich Andreas nach dem Kostüm der Künstlerin eine zureichende Vorstellung machen. Und in der That waren die Noten, die ihm jetzt ausgehändigt wurden, französische couplets von ebensolcher Unverhülltheit wie die überlebensgroße Schönheit der Sängerin, daher auch so eindeutig, daß Andreas zweifelte, ob sie nicht französische und nicht erst aus dem Deutschen ins Französische übersetzt seien. Er fühlte sich in mißlicher Lage; da er A gesagt hatte, mußte er auch B, oder was sonst im russischen Alfabet danach vorgesehen sein mochte, sagen. Eine Weigerung, seine leichtsinnige Zusage zu erfüllen, konnte ihm unangenehme Weiterungen bereiten, zumal er ohne Paß war und in Rußland beamtlicher Willkür auf Ungnade preisgegeben. Außerdem mochte es noch zweifelhaft erscheinen, was blamabler sein möchte, zu spielen oder zu streiken. Nun, zum Glück war sein Name noch nicht engagiert in der fatalen Sache. Er bat den Baron nur, seinen Namen in jeder Hinsicht aus dem Spiel zu lassen, was dieser auch, da ihm nur an den Begleitungen lag, zusagte.

Dann mußte Andreas herein. Peinlich bedrückt schlich er hinter der mit großem Jubel begrüßten boule de suif und suchte sich am Klavier möglichst hinter den Noten zu verstecken. Die Künstlerin begann ihre Koschonnerien zu plärren und mag wohl die glatten Pointen auch im Geberdenspiel faustdick aufgetragen oder unterstrichen haben. Jedenfalls konnte Andreas bisweilen vor Gewieher nichts von dem Gemecker hören. Er mußte gute Miene zu dem bösen Spiel machen und fand immer noch, im ganzen Saal sei momentan sein Platz der wenigst unerträgliche. So mußte er sich mit Unterbrechungen fast eine Stunde lang prostituieren. In die alberne, aber doch gerade mit ihren Hackbrettbässen knifflig zu spielenden Begleitungen vertieft, hatte er gar nicht bemerkt, daß schon ganz zu Anfang der ersten „lyrischen Darbietung“, alles was an Damen anwesend war, den Saal verließ; sonst hätte er sich wenigstens etwas beruhigter gefühlt.

Mr. Robert ließ noch diverse Jahrmarktstückchen folgen, dann schloß die künstlerische Darbietung, an der noch das anständigste das Walzerlied gewesen

Un p’tit verre de Cliquot c’est bien pen d’chose,
Ça ni fait voir aussi tôt la vie en rose.
J’aime à chanter avec Margot la valse de Cliquot Cliquot.

Nach Schluß des Konzertes begab man sich nach dem Wirballer Bahnhofs-Restaurant zu festlichem Beisammensein. Dohrendaals Schwiegersohn, dessen Namen Andreas noch immer nicht herausbekommen hatte, geleitete diesen, während der betagte Baron in angeborener Ritterlichkeit sich persönlich der Mühe unterzog, der von dem Beifallgebrülle des begeisterten Publikums fast betäubten Künstlerin bei der Garderobe behülflich zu sein, da sie „ihre Zofe in Paris lassen mußte“.

Bei dem Souper im Bahnhofshotel wurde der Kaviar in großen, der süffige trockene Odessa-Sekt in enormen Quantitäten konsumiert. Auch andere feste und flüssige Nahrungsmittel gelangten zur Vertilgung, namentlich Wudtki, russischer Cognak, und Kirschenschnaps, ferner Konfitüren und Käse.
Allen Lockungen, mit denen die übervollständige Dame im Laufe der nächsten Stunden an Andreas herantrat, sich ihnen auf ihrer russischen Tournee anzuschließen, wußte dieser sieghaft zu widerstehen.

Aus dem XIV. Kapitel


Am Sonntag kam Andreas zeitig nach Eydtkuhnen und spazierte sofort nach Kibarty hinüber, wo er von dem Mäzen erfuhr, daß der Billetverkauf noch nicht sehr stark sei, da man noch an dem Zustandekommen des Konzertes zweifele. Der Bürgermeister oder Polizeirat Tscherbatscheff habe das Konzert nämlich heute verboten und wolle die Grenze am Abend nicht offen halten. „Was? Verboten? Warum?“ fragte Andreas erschreckt. „Wahrscheinlich braucht er Geld“, lautete die einfache Antwort und auf Rat des Barons suchte Andreas den Allmächtigen nachher drüben in Eydtkuhnen bei Tiedemann auf, wo er um diese Zeit anregende Getränke zu sich zu nehmen liebte. Er solle nur ruhig fünf Rubel bezahlen und dafür Freigabe des Konzertes verlangen. In der That traf Andreas den Polizeirat, einen hünenhaft gewachsenen hübschen Kerl mit langem kohlschwarzem Vollbart, in der Weinstube der Tiedemannschen Konditorei, stellte sich ihm vor und entschuldigte sich umständlich, daß er um die Erlaubnis bitte, eine dienstliche Angelegenheit hier zur Sprache zu bringen. „O biete Herr – macht garr nicks, biete Herr!“ lautete die entgegenkommende Antwort, und während Andreas sein Anliegen vorbrachte, steckte der andere verstohlen das Zehnmarkstück, das der Bittsteller diskret auf den Tisch gelegt, zu sich, und alle Hindernisse waren beseitigt. Nur schade, daß sich das Gerücht von dem Verbot schon so weit diesseits wie jenseits der Grenzpfähle herumgesprochen hatte, daß es auf den Besuch des Konzertes einen äußerst nachteiligen Einfluß ausüben mußte, zumal eine neue Bekanntmachung jetzt nicht mehr zu ermöglichen war.

Mittlerweile hatte der Himmel seine Schleusen geöffnet, und Andreas, der natürlich in Konzertdress war, kam bei Sterneggers zur Kaffeezeit bis auf die Haut durchnäßt an.

Um ½ 8 nach russicher oder ½ 7 nach Eydtkuhner Zeit fand sich Andreas im Hotel Wolff ein. Frau Wolff war äußerst überrascht, von ihm zu hören, daß das Konzert stattfinden solle. Die Stühle waren nicht aufgestellt, die Petroleumlampen, die den Saal erleuchten sollten, nicht gefüllt, und so ward dann eine fieberhafte Thätigkeit entfesselt. Mit einer Handlampe in den Saal kommend, konstatierte Andreas dann, daß auch kein Flügel vorhanden war. Schöne Geschichte! Natürlich nur alles Folgen der blödsinnigen Schikane des bakschisch-freudigen Herrn Oberbürgermeisters, Polizeirates und Rittmeisters. Was war jetzt anzufangen! Vor allem mußte er Herrn Kopernicki aufsuchen. Aber wie finden! Es war inzwischen dunkel geworden. Straßenbeleuchtung gab es schon aus dem Grunde nicht, weileigentlich keine Straßen vorhanden waren, und wie sollte er den Feldweg finden? Zum Glück erschien jetzt Herr Baron Dohrendaal in der Absicht, Frau Wolff von dem Stattfinden des Konzertes in Kenntnis zu setzen. Er verschaffte dem bedrängten Konzertgeber einen Begleiter, der ihm mit einer Laterne zu Kopernickis Behausung leuchten sollte und trommelte denn auch noch vier Kerle zusammen, die er mit einem Fuhrwerk schickte, den Flügel zu transportieren.

Sterneggers hatten Andreas wohl mit einem Regenschirm und einem Gummimantel ausgerüstet, aber die Terrainschwierigkeiten des Feldweges durch lehmigen Boden waren nicht vorgesehen. Und die waren nicht allein trefflich geeignet, die Konzertstimmung des Künstlers zu steigern, sondern hinterließen auch auf einem Teil seiner Kleidung ungemein dekorativ wirkende Spuren, ein neues impressionistisches Stoffmuster war unversehens kreiert. Nach einer strapaziösen Wanderung, bei der Andreas sich eine sehr tiefe Kenntnis des russischen Bodens erwarb, klopfte er bei Herrn Kopernicki am Vorderzimmer vergebens. Der Flügel stand offen, Noten und eine brennende Kerze darauf. Andreas versuchte dann sein Heil an der nächsten Thür; auf sein Pochen glaubte er einen leisen weiblichen Schrei zu hören, dann wurde von Herrn Kopernickis Stimme eine russische Frage laut. Der Besucher nannte seinen Namen, worauf von innen bestürzte Entschuldigungen und die Bitte um einen Augenblick sich zu gedulden kam, er, Herr Kopernicki sei gerade bei der Toilette.

Nach etlichen Minuten Verlauf erschien er in noch etwas derangiertem Kostüm und ergoß sich in einem Schwall von Entschuldigungen. Seinen Flügel habe er nicht gesandt, weil der Polizeirat ihm erzählt habe, das Konzert werde nicht stattfinden, und daß es nun doch statthaben solle, überraschte ihn höchlich, ließ ihn aber auch sogleich richtig ahnen, welches Zaubermittel solchen Wandel geschaffen habe. Natürlich aber sei er nach wie vor bereit, das Instrument zur Verfügung zu stellen, nur war guter Rat teuer, wie man es jetzt transportieren solle. Zum Glück erschienen die von Dohrendaal gesandten Träger mit ihrem Karren, und so wurde denn trotz des Regens wohlgemut mit dem Transport begonnen.

Als Andreas die Sache im Geleise sah, trat er mit Hilfe seines Luzifer die Rückwanderung durch die Sümpfe an. Nachdem ihn auf dem Hinweg alle die Widerwärtigkeiten und Hindernisse in helle Wut versetzt hatten, trat nunmehr eine Reaktion bei ihm ein, so daß er nur noch das Groteske und Lächerliche des ganzen tollen Abenteuers empfand.

Am Saaleingang saß Baron Dohrendaal in höchsteigener Person an einem Tisch und versah das Amt des Kassierers, daneben stand ein schüchterner junger Mensch von linkischem Gebaren, der sich Andreas vorstellte: „Ich heeiße Herr Bajohr. Ich komme von der Zeeitung. Herr Fraßdorf hat mich beauftragt, eine Krihtik über Ihre Vorstellung zu machen.“ Andreas fragte ihn belustigt: „So sind Sie also musikalisch?“ „Ähh, nich doch!“ wehrte der andere bescheiden ab. „Aber dann sind Sie wohl der Herr Redakteur?“ Beglückt und geschmeichelt ließ der Jüngling erst einen Augenblick diese überwältigende Vorstellung auf sich wirken, dann mußte er bekennen: „Neein, das macht der Schaff alles salbst. Ich bin man bloß Setzer-Lehrling. Aber im April ist meeine Lehrzeeit um. Dann bleeib ich aber noch beei Fraßdorf in Stellung, um noch Redakteur zu lernen, und in zweei Jahren mach ich dann sälbst ne Zeeitung auf!“ „Und da will man noch behaupten, Journalisten seien Leute, die ihren Beruf verfehlt hätten“, lachte Andreas, dessen inneres Gleichgewicht durch das kurze Gespräch wieder hergestellt war. „Hier haben Sie ein Billet, daß Sie sich die Sache anhören können, aber unter der Bedingung, daß Sie keine Krihtik schreiben. Versprechen Sie mir das?“

Und er empfing des Jünglings Manneswort.

Da bereits einzelne Besucher erschienen, so fand Andreas es an der Zeit, sich in den „Gauklerstall“ zurückzuziehen. Dorthin ließ er sich auch eine Bürste bringen. Des Künstlers Bemühungen, seine Stiefel in eine einigermaßen anständige äußere Verfassung zu bringen, blieben erfolglos. So mußte sich Andreas – gemäß dem alten Grundsatz „Wenn die Kuh geflohen ist, soll man den Stall zuschließen“ – zur käuflichen Erstehung eines Paares russischer Galoschen entschließen. Das im selben Haus befindliche Geschäft war zwar schon geschlossen, aber da es sich um Geldverdienen handelte, war die Inhaberin, Fräulein Blümchen delikat geheißen, eine Schwester der Frau Wolff, nicht abgeneigt, noch einmal zu öffnen.

Endlich erschien auch der Flügel, ohne nennenswerten Schaden genommen zu haben, auf der Bildfläche und wurde durch den teilweise schon gefüllten Saal aufs Podium geschafft. Auf seiner vom Regen etwas blind gewordenen Politur wirkten etliche Dreckspritzer auch sehr dekorativ.

Andreas mühte sich nebenan vergeblich, seinen Kleidern ihre ursprüngliche dunkle Farbe wiederzugeben. Zu den Bestandteilen seines Konzertanzuges gehörte übrigens ein Kleidungsstück, das für einen Künstler noch unentbehrlicher als der Frack ist, so unentbehrlich, daß sein Fehlen beim Betreten des Konzertpodiums unliebsames Aufsehen und – wenigstens in Europa – strenge behördliche Ahndung zur Folge haben würde. Ob auch in Ostpreußen, darauf wollte es Andreas nicht ankommen lassen, darum hatte er sich sechs Wochen vorher zu dem Stallupöner Konzert zum Eigentümer eines neuen Exemplars besagter Spezies von Kleidungsgegenständen gemacht.

Es machte Andreas wenig Freude, in diesem neuen und eleganten Gegenstand, dessen Dauerhaftigkeit ja heute außergewöhnlichen Proben ausgesetzt gewesen, im Augenblick, da er das Podium betreten wollte, eine überzählige Öffnung in der Frackgegend zu finden, zwar nicht viel länger als 40 Centimeter, aber immerhin lang genug, um ihn dem Verdacht auszusetzen, er wolle Reklame für Jägers Normalunterwäsche machen.

Er mußte seine ganze Anmut aufbieten, als er sich bis zu seinem Klavierstuhl schlängelte. Um sich dem hochverehrlichen Publikum gegenüber keine Blöße zu geben, mußte er seine Frackschöße als Feigenblätter gebrauchen. Seit jenem Abend gehört der sonst allem Dunkelmännertum abholde Andreas Marolt zu den eifrigsten Anhängern der auf Verdunkelung der Konzertsäle gerichteten Bewegung in unserem Musikleben.

Aber noch nie hatte er Schuberts „Am Meer“ oder „Die beiden Grenadiere“ von Schumann mit ähnlich tiefer und wahrer Empfindung zu Gehör gebracht als in seiner heutigen durch die Gunst der begleitenden, beinahe entkleidenden Umstände erfreulich gehobenen Seelenstimmung.

In der Pause brachte Baron Dohrendaal dem Konzertgeber einen Haufen schmieriger Papiere, lauter Rubelchen, sie, als sie noch neu waren, sogar sauber gewesen sein mochten. Andreas zweifelte, ob das „non olet“ auch auf so beschaffene Rubelchen anwendbar sei. Wie der Baron ihm mitteilte, waren alle auf russischem Boden entstandenen Spesen bereits in Abzug gebracht. Eine spezifizierte Abrechnung bot der Edelmann nicht an, und Andreas war so feinfühlig, stillschweigend Décharge zu erteilen, hielt es auch andererseits nicht mehr für notwendig, noch weniger für rathsam, dem redlichen Makler eine Provision anzubieten. Konnte man wissen, ob ein derartiges Anerbieten nicht angenommen worden wäre!

Siebenundsechzig waren es der appetitlichen Papierchen, wenn nicht etwa einige aneinander klebten. Andreas suchte sich ein einwandfreies Stück Papier, um seine Beute einzuwickeln und so möglichst vor Berührung mit anderem Inhalt seiner Brusttasche zu behüten. Dann wusch er sich die Hände. Mit dem Beifall, der ihn auch die zweite Abteilung hindurch unvermindert treu blieb, hätte der Konzertgeber schon zufrieden sein können. Seit fünfzehn Jahren passiv, seit einigen Jahren gelegentlich auch aktiv in deutschen Konzertsälen heimisch, hatte er doch nur einmal in seinem Leben ähnlich tobende Ausbrüche rasenden Jubels bei einem Publikum erlebt; zufällig war es zum größten Teil dasselbe Publikum, und in dem früheren Fall war es die beinahe vierdimensionale Madame Robert gewesen, die der Orkan umtost hatte.

Die besonderen Umstände, namentlich die Rücksicht auf die Kleiderordnung, zwangen den Künstler, seinen Dank für die enthusiastische Aufnahme nur in sehr zurückhaltender Weise zu erkennen zu geben und lieber von der russischen Musikgeschichte ein halbes Dutzend Hervorrufe weniger verzeichnen zu lassen.