Neues Schauspielhaus

Die Entstehung des Neuen Schauspielhauses schildert Ludwig Goldstein in seiner Festschrift anlässlich des Theaterumzugs 1927 ausführlich (Quelle s. Auswahlbibliografie – Der vollständige Text der Festschrift ist im Kapitel über Ludwig Goldstein dokumentiert). Ein Arbeitsausschuss, bestehend aus einem Arzt, Dr. Artur Berdrow, dem Motor des Unternehmens, einem Juristen, zwei Kaufleuten, dem Stadtkämmerer Erdmann und dem Architekten Otto Walter Kuckuck war 1907 zusammengekommen, um die Gründung eines Theaters zu planen, das sich ausdrücklich als Gegenentwurf zum etwas behäbigen, das Risiko scheuenden Stadttheater verstand. Nach Abwägung mehrerer Alternativen baute man das Passage-Theater in der Rossgärter Passage um, wobei die Abmessungen der Bühne (11 x 7 m) doch arg beeinträchtigten. Die Bauplanung übernahm Kuckuck.

Der spätere Dramaturg des Theaters Martin A. Borrmann hat aus eigenem Erleben die Atmosphäre beschrieben, die damals rund um die bevorstehende Theatereröffnung geherrscht hat (Quelle s. Auswahlbibliografie):

Es war um die Mittagsstunde eines Septembertages, wenige Jahre vor dem ersten Weltkrieg, als ein Sekundaner des Königlichen Friedrichskollegs, der altberühmten Königsberger Schule, statt den Weg nach Hause zu nehmen, von der Königstraße rechts in die sogenannte „Passage“ einbog, in diese seltsame kleine Verkaufsstraße, diesen überdachten Durchgang, der abkürzend zum Vorderroßgarten führte. Die dort immer ein wenig dumpfe Luft war heute von hellem Kalkstaub erfüllt: Bauleute machten sich daran, die Gerüste, die schon fast ein Jahr lang dort den Verkehr behindert hatten, abzubauen. Über den Schutt und die herumliegenden Balken aber stieg in diesem Augenblick ein großer, hagerer, dunkel gekleideter Herr mit langer schwarzer Mähne — so könnte Dante ausgesehen haben, dachte der Sekundaner. Es war Herr Robert, erster Charakterspieler der neuen Kammerspielbühne, die hier, ein technisches Kunststück des Architekten Kuckuck, ihrer Vollendung entgegenschritt. Sie nannte sich „Neues Schauspielhaus“.
Den jungen Mann, der ein „leidenschaftlicher“ Theaterbesucher war, beunruhigte auf eine ihm selbst unerklärliche Weise dies Erscheinen einer zweiten Bühne. Das lag wohl daran: er liebte so sehr sein altes Königsberger Stadttheater, zumal es Schauspiel und Oper vereinte und beide seiner Jugend unauslöschliche Eindrücke vermittelt hatten, daß er sich einfach davor scheute, künftig sein Gefühl womöglich teilen zu müssen. Und dennoch kam es dazu! Denn die neue Bühne brachte den neuen Stil mit, die neuen Werke, den neuen Geist und Atem der Zeit; und diese sind nun einmal, oft gegen alle objektive Einsicht, unsere mächtigsten künstlerischen Wertmesser.

1910 kam es zur Gründung einer "Neues Schauspielhaus G.m.b.H." und am 8. September eröffnete das Theater unter der künstlerischen Leitung von Josef Geißel, der schon früher als Schauspieler am Stadttheater gearbeitet hatte und bis 1928 an Königsberger Theatern führend tätig sein sollte (1910–1914 Neues Schauspielhaus; 1920 und 1923–1928 Stadttheater; 1920–1923 Volksbühne). Geißel fühlte sich Max Reinhardt verpflichtet und brachte viele Stücke bald nach ihrer Berliner Aufführung auch in Königsberg auf die Bühne.

In der Saison 1914/15 erlebte das Theater seine erste existenzielle Krise. Unter der künstlerischen Leitung von Gustav Müllerheintz musste es am 2. Mai "wegen schlechten Geschäftsganges" seinen Betrieb einstellen. Welche Schwierigkeiten hier eine Rolle spielten, lässt eine Anmerkung im DBJ 1915 (S. 469) erahnen:

Bereits am 6. Mai konnte es jedoch als "Neues Schauspielhaus – Freie Schauspieler-Vereinigung" wieder öffnen, da der Aufsichtsrat der Weiterführung durch die Mitglieder des Theaters zustimmte. Die Vereinigung hielt den Spielbetrieb unter Leitung von Emil Marx bis Ende Juli aufrecht. – Am 13. Juli kam sogar ein Kriegs-Gastspiel im "Hauptquartier des Ostens" zustande.

Mit der Spielzeit 1915/16 begann die erfolgreiche Zeit des Theaters unter Leopold Jessner (1878–1945). Er kehrte in seine Vaterstadt Königsberg zurück, nachdem er elf Jahre lang das Hamburger Thalia-Theater geleitet hatte. Anschließend sollte er als Intendant des Berliner Schauspielhauses am Gendarmenmarkt einer der großen Theaterregisseure seiner Zeit werden (Die Allgemeine Zeitung Chemnitz nannte ihn in der Mitte der zwanziger Jahre gar den größten Regiekünstler unserer Zeit). Bisher ist offenkundig unbekannt geblieben, dass Jessner, gebürtiger Königsberger, in seinen "Lehrjahren" als junger Schauspieler neben seinem Engagement im Reich während zweier Sommerpausen bei Königsberger Sommertheatern spielte: 1899 beim Apollo-Theater und 1900 beim Passage-Theater. Wer sich über Jessner, besonders über seine Beziehungen zu Königsberg genauer informieren möchte, dem sei ein Aufsatz von Silke Osman empfohlen. Er wurde unter dem Titel: "Leopold Jeßner – Theater als Leidenschaft" im Ostpreußenblatt vom 14. Oktober 2000 veröffentlicht und ist im Internetarchiv der Zeitung leicht zu erreichen.

Leopold Jessner

Die folgende Abbildung zeigt den Eintrag des Neuen Schauspielhauses in DBJ 1916. Sie weist nach, dass bereits in der ersten Spielzeit unter der künstlerischen Leitung von Leopold Jessner (1915/16) sein Vetter Fritz Jessner Mitglied des Ensembles war. Fritz Jessner leitete später das Haus von 1925–1933; dann erzwangen die Nazis wegen seiner jüdischen Abstammung den Rücktritt. – Die frühe Zugehörigkeit Fritz Jessners zum künstlerischen Personal des Neuen Schauspielhauses ist in der nach dem Zweiten Weltkrieg erschienenen Königsberg-Literatur offensichtlich nicht erwähnt worden (wohl aber in der eingangs erwähnten Festschrift von Ludwig Goldstein).

Auf Leopold Jessner folgte Richard Rosenheim von 1919 bis 1925 als Theaterdirektor. Er war zuletzt Leopold Jessners Stellvertreter, Oberregisseur und engster künstlerischer Vertrauter gewesen, führte Jessners Arbeit fort und setzte doch eigene Akzente. Ludwig Goldstein schrieb 1927 in seiner schon erwähnten Festschrift: "War Leopold Jessner der sinnenfreudigste, so war Richard Rosenheim der geistigste Spielleiter des Schauspielhauses." Drei Schauspiele Hermann Sudermanns erlebten unter Rosenheims Intendanz ihre Uraufführung in Königsberg (s. Liste am Ende dieses Beitrags). Auch dass der gebürtige Westpreuße Paul Wegener immer wieder im Schauspielhaus auftrat, ist ein Verdienst Rosenheims. Wegener beging sogar seinen 50. Geburtstag am 11. Dezember 1924 in Form einer öffentlichen Bühnenfeier bei seinen Königsberger Theaterkollegen.

In der Mitte sitzend Paul Wegener; den Arm auf seinen Stuhl gelehnt Richard Rosenheim; im weißen Kittel stehend Fritz Jessner
Quelle: Ludwig Goldstein: Festschrift 1927 (Museum Stadt Königsberg Duisburg)

In den Jahren der Weimarer Republik gab es große organisatorische Veränderungen bei den Königsberger Theatern. Das Neue Schauspielhaus war hiervon gleich mehrfach betroffen.

Zuerst schlossen sich das Stadttheater und das Schauspielhaus am 1. Dezember 1924 zum Ostpreußischen Landestheater zusammen. Beide Theater blieben künstlerisch selbstständig; unter starker Anteilnahme des Stadtschulrats Paul Stettiner wurde bei der Gründung dieser Interessengemeinschaft die klare Trennung in eine Bühne für Oper und Operette auf der einen und für Schauspiel auf der anderen Seite festgelegt. An den Besitzverhältnissen beider Theater änderte sich zunächst nichts (Theater-Aktien-Gesellschaft bzw. Neumanns Erben).

Amnerkung: Über das spätere traurige Schicksal des eben erwähnten Paul Stettiner gibt eine biografische Notiz über Benno Meyerowitz Auskunft, der bei der Königsberger Operngesellschaft eine wichtige Rolle spielte.

Hiermit wurde aber eine Entwicklung eingeleitet, die erst während der Spielzeit 1933/34 zum Abschluss kam: die Übernahme der beiden Theater als "Städtische Bühnen" durch die Stadt Königsberg zuerst in Eigentum (1925–28), später auch in Eigenbetrieb. Die Städtischen Bühnen erhielten danach eine gemeinsame Verwaltung, zeitweise auch eine gemeinsame Intendanz. Im Zuge dieser Entwicklungen wurde das Gebäude des Neuen Luisentheaters in der Hufenallee 2, welches 1923 seinen Betrieb eingestellt und dann für zwei Spielzeiten die Komische Oper beherbergt hatte, umgebaut und diente dem Neuen Schauspielhaus von der Spielzeit 1927/28 an als neues Domizil. – Das verlassene Gebäude in der Rossgärter Passage wurde zu einem Kino, den Passage-Lichtspielen, umgebaut.

Neues Schauspielhaus um 1930

Neues Schauspielhaus Königsberg – ca. 1930

Das Neue Schauspielhaus bestand bis 1944; zum 1. August 1944 wurde es – wie alle deutschen Theater – von Reichspropagandaminister Goebbels geschlossen. Seine Intendanten waren:

1910–1914 Josef Geißel
1914/15 Gustav Müllerheintz, Emil Marx
1915–1919 Leopold Jessner
1919–1925 Richard Rosenheim
1925–1933 Fritz Jessner (1933 Demission erzwungen)
1933–1935 Kurt Hoffmann
1935–1938 Edgar Klitsch
1938–1942 Max Spilcker
1942/43 Max Spilcker / Herbert Wahlen
1943/44 Herbert Wahlen

Von der Spielzeit 1935/36 bis Ende 1942 erstreckte sich die Intendanz auch auf das Königsberger Opernhaus.

Zu den Ensemblemitgliedern, die später überregional bekannt wurden, gehörten bis 1933 Albert Lieven (ging dann ins Exil nach London) und in der Spielzeit 1943/44 Karl John, Wolfgang Preiß und Karl Schönböck.

Am Neuen Schauspielhaus erfuhren die folgenden Werke ihre Uraufführung oder ihre deutsche Erstaufführung (Auswahl der bedeutendsten Werke):

10.04.1918 Max Brod: Eine Königin Esther
18.10.1919 Hermann Sudermann: Die Raschhoffs
01.12.1920 Max Brod: Die Fälscher
15.05.1921 Arthur Schnitzler: Casanova in Spa
31.01.1922 Eduard Mörike: Der letzte König von Orplid
06.11.1922 Hermann Sudermann: Die Träumenden
20.11.1923 Hermann Sudermann: Die Denkmalsweihe
22.11.1924 John Galsworthy: Das Fenster
12.11.1927 Lion Feuchtwanger / Bertolt Brecht: Kalkutta, 4. Mai
21.04.1928 Ernst Barlach: Der Findling
30.11.1929 Max Brod: Lord Byron kommt aus der Mode
29.11.1930 John Dos Passos: Luftfahrt A.G.
17.03.1934 George Berhard Shaw: Festgefahren (England erwache)
18.10.1934 Erwin Guido Kolbenheyer: Gregor und Heinrich
17.05.1941 Lope de Vega: Narrheit, Liebelei und Liebe

* * *

Es bleibt nachzutragen, dass das Neue Schauspielhaus – anders als das Stadtheater – die Bombenangriffe vom August 1944 leidlich überstand und dass NS-Kulturorganisationen gelegentlich noch Einzelveranstaltungen genehmigten; allerdings gab es keine Theateraufführungen mehr.

So wurde für den 19. November 1944 ein Klavierkonzert mit Margarete Schuchmann angekündigt:

 

Am 17. Dezember gab Agnes Miegel eine – wahrscheinlich ihre letzte – Lesung in Königsberg. Von dieser Veranstaltung, bei der auch Klaviermusik zu hören war, liegt noch eine Kritik vor:

 

Und schließlich war offensichtlich auch noch am 29. Januar 1945 eine Veranstaltung geplant, in jenen Tagen, als die letzten Eisenbahnzüge und Trecks Königsberg verlassen konnten. Eine Eintrittskarte, unbenutzt, hat die Flucht und die Zeit zufällig überstanden, weil sie sich in einem Ausweis befand.

(Die letzten drei abgebildeten Dokumente befinden sich im Museum Stadt Königsberg Duisburg)

Nach Gause (III 166) hat es selbst danach noch Veranstaltungen im Theatergerbäude gegeben. Ein regelmäßiger Betrieb sei natürlich nicht mehr möglich gewesen, aber es seien dort noch Filme gezeigt worden, "so noch im Februar der Durchhalte-Propagandafilm 'Kolberg'". Das städtische Orchester habe bis in die letzten Tage (April 1945) unter Wilhelm Franz Reuß Konzerte im Schauspielhaus (und in Lazaretten) gegeben.

Anmerkung: Gauses Formulierung ist insoweit nicht zutreffend, als er vom "städtischen Orchester" spricht. Tatsächlich war Reuß seit "Anfang 1945 Dirigent des aus Resten seines Orchesters und der Theaterorchester von Tilsit und Allenstein gebildeten 'Gaukriegsorchesters'." (Fred. K. Prieberg: Handbuch Deutsche Musiker 1933-1945. CD-ROM. S. 5716.)

Nach der Wiederherstellung des Gebäudes spielt hier heute das Dramatheater Kaliningrad (Калининградский областной драматический театр), das derzeit bedeutendste Theater auf dem Gebiet Ostpreußens.

Hier geht es zu den Spielplänen von 1910–1944.