Die berufliche Korrespondenz


Abenteuerlich haben wir das Schicksal der Dokumente genannt, die über Lotte Simon (USA) und Ernst Hurwitz (Israel) in den neunziger Jahren zur Familie Hartung nach Berlin gelangten und den Königsberger Musikverein und Hugo Hartungs Wirken von 1924 bis 1932 betreffen.

Es ist noch eine Steigerung zu vermelden: Die Umstände, unter denen wesentliche Teile von Hartungs beruflichem Schriftverkehr die Zeit unbeschadet überdauert haben und nun auch wieder „heimgekehrt“ sind, sind schlechthin kaum zu glauben.

Zum besseren Verständnis steht hier vorab ein Auszug aus der von Hartungs Witwe Annina in den 90er Jahren des letzten Jahrhunderts verfassten Vita von Hugo Hartung:

Nachdem Hugo Hartung aus dem Schuldienst entlassen worden war, gründete er im Herbst 1936 die "Hartungsche Musikschule", die sich in seinem Einfamilienhaus so entwickelte, daß er 1938/39 Unterrichtsräume und ein Musikheim für auswärtige Schüler anbauen mußte. Hier wurden – neben dem Musikunterricht für Kinder und Musikliebhaber – Chordirigenten, Kapellmeister, Sänger, Pianisten, Organisten, Geiger und Privatmusiklehrer ausgebildet. Obwohl die meisten berufsorientierten männlichen Schüler während ihrer Ausbildung eingezogen wurden und auch sonst der Unterrichtsbetrieb unter den Kriegsverhältnissen litt, besuchten 1944 etwa 300 Schüler die Musikschule, davon 35 Studierende im Seminar (20 auswärtige im Musikheim). Fünf Lehrkräfte waren voll-, acht Lehrkräfte nebenamtlich angestellt. Als Ende August 1944 die Musikschule geschlossen werden mußte und die Familie Hartung nach schweren Luftangriffen (bei denen Wohnhaus, Musikschule und Musikheim beschädigt wurden) Königsberg verlassen mußte, blieben 16 Flügel und Klaviere, 2 Cembali (Manual-und Pedalcembalo), 1 Orgel (Portativ), 16 wertvolle Streichinstrumente, eine Bücherei (Bücher und Noten) mit etwa 10 000 Exemplaren und die gesamte Schul- und Heimeinrichtung zurück.

Die Gebäude (Wohnhaus, Unterrichtsräume, Musikheim) – Postanschrift Goethestraße 17 – wurden durch die britische Bombardierung also beschädigt, nicht zerstört. Sie stehen heute noch und sind seither immer, da geräumig, von mehreren Familien bewohnt gewesen. Die erste Generation der aus der Sowjetunion z. T. zwangsumgesiedelten Bewohner fand die Gebäude demnach etwa in dem von Annina Hartung beschriebenen Zustand vor.

Einer der jetzigen Bewohner schilderte vor einigen Jahren Nina Freudenberg, der Tochter Hugo Hartungs, anlässlich eines ihrer regelmäßigen Besuche in Kaliningrad, es sei da noch eine Kiste mit alten Papieren aus der deutschen Zeit vorhanden. Die habe er bei seinem Einzug im Vorbau des Hauses unter abgesenkten Fußbodendielen gefunden, als er die störenden Unebenheiten beseitigen lassen wollte. Nachträgliche Überlegungen führten zu dem Ergebnis, dass die erste russische Bewohnergeneration 1945 das von Annina Hartung erwähnte Pedalcembalo, an dessen Standort sich Nina Freudenberg noch aus Kindertagen erinnerte, als Brennholz verfeuert haben musste, soweit es aus Holz bestand. Dort, wo sich das Pedal befunden hatte, entstand im Boden ein Hohlraum, der mit zufällig greifbarem Papiermaterial verfüllt wurde, ehe die neuen Fußbodendielen verlegt wurden, während im übrigen Raum das ursprünglich verlegte Parkett bis heute erhalten blieb. Hier schlummerten die Dokumente fast 70 Jahre.

Die Sichtung ergab, dass es sich bei dem vorzüglich erhaltenen Material um einen wesentlichen Teil von Hugo Hartungs beruflicher Korrespondenz handelt. Die mehr als 1300 Schriftstücke stammen überwiegend aus den dreißiger Jahren. Größere zeitliche Lücken weisen darauf hin, dass damals wohl solche Dokumente im Boden versenkt wurden, die gerade bequem greifbar waren. Anderes kam nicht zum Zuge und wurde entweder verbrannt oder anderweitig entsorgt.

Hier folgt eine Übersicht, die die Jahreshäufigkeit der Schriftstücke erkennen lässt:

1919 1 1935 446 1940 79
1931 1 1936 241 1941 64
1932 3 1937 3 1942 96
1933 60 1938 7 o. D. 22
1934 228 1939 103    


Insgesamt 1354 Schriftstücke

Die Briefe erlauben zunächst einmal einen guten Einblick in das Tagesgeschäft eines gefragten Chorleiters, der sich auch um die vorbereitende Organisation seiner Konzerte zu kümmern hat, sei es durch Briefwechsel mit seinen Solisten, mit der Stadt Königsberg oder mit Musikverlagen. Die Häufung in den Jahren 1934–36 erweist sich rückblickend als glücklicher Zufall, weil hier ein völlig anderer Gesichtspunkt vorherrscht: Hartungs von ihm selbst immer wieder so genannter „Abwehrkampf“. Nach der „Machtübernahme“ wurden Hartung seine Positionen streitig gemacht, offensichtlich durch Denunziation mit der Begründung, er sei mit einer Halbjüdin verheiratet.

Die Auswertung der Korrespondenz unter diesem Aspekt bereichert die Geschichte der Königsberger gemischten Chöre um ein wesentliches, überwiegend unschönes Kapitel. Hier der Link.