Gesangvereine in Kleinstädten

Das Musikleben in den ostpreußischen Kleinstädten, dort, wo ein Theater oder ein Orchester dauerhaft nicht selbstständig existieren konnte, wurde gewöhnlich von seinen Gesangvereinen, häufig nur von einem einzigen, getragen.

Da sich das Musikangebot meist auf diese Chöre beschränkte, war ihre lokale Bedeutung enorm: Soweit es sich um Männergesangvereine handelte, was gewöhnlich der Fall war, kamen hier die Personen zusammen, die das örtliche Leben maßgebend bestimmten, vor allem Kaufleute, Ärzte und Lehrer. So war es jedenfalls im 19. Jahrhundert. Als später, auch infolge des Ersten Weltkriegs, die Mitgliederzahlen schrumpften, öffnete man sich weiteren Kreisen.

Die Auftritte dieser Chöre, gewöhnlich zwei pro Jahr, bildeten regelmäßig Höhepunkte des örtlichen Kulturlebens. Wenn am Ort auch ein Frauenchor existierte, konnte man sich gelegentlich an die Aufführung eines Oratoriums wagen, zu dem man als Solisten und Instrumentalisten auswärtige Kräfte hinzu verpflichtete.

Die Männerchöre waren in einer dreifach-gestuften Hierarchie organisiert: zunächst im Sängergau (davon gab es in Ostpreußen nach dem Ersten Weltkrieg 16), dann im (Ost-) Preußischen Provinzial-Sängerbund und schließlich im Deutschen Sängerbund. Vor allem die Gau-Sängerfeste boten willkommene Gelegenheit, sich auch mit benachbarten Chören zu treffen und gemeinsam aufzutreten. Für jeden Chor wurde die Austragung eines solchen Gau-Festes, zu dem mehrere hundert, vereinzelt bis zu tausend Teilnehmer kamen, zu einem Höhepunkt seiner Vereinsgeschichte.

Foto von einem bisher nicht identifizierten Sängerfest

Anmerkung: Das Foto stammt aus dem Besitz der Familie Neiss, Stallupönen. Adolf Neiss, Kaufmann in Stallupönen, war seit etwa 1900 für mehrere Jahrzehnte immer wieder einmal Dirigent des örtlichen Sängergesangvereins. Der am unteren Rand eingefügte Pfeil weist auf ihn. Vermutlich wurde das Bild anlässlich eines Gau-Sängerfests des Grenzgau-Sängerbundes aufgenommen, aber nicht in Stallupönen selbst, weil die Konzertmuschel im Hintergrund nicht in Stallupönen stand (eine ähnliche im dortigen Schützenpark hatte anderes Aussehen); außerdem wäre Neiss in diesem Fall als Gastgeber der Festdirigent gewesen. Neben dem Festdirigenten stehen im Vordergrund auf Stühlen offenbar die Vorsitzenden oder Dirigenten der teilhehmenden Vereine.

Die Vereine, deren Chroniken hier veröffentlicht werden, sind (in der Reihenfolge der Publikation):

Die am Orte verfasste Chronik stellt einen Sachverhalt aus der Lokalsicht dar. Die ist eine andere, als wenn es um ein orts- oder gar provinz-übergreifendes Sängerfest ginge. Deshalb enthalten diese Berichte stets eine Fülle wertvoller Informationen, die bei den Großereignissen unter den Tisch fallen. Hier erfährt der Leser etwas über die Menschen der jeweiligen Stadt, über ihre Wünsche, Hoffnungen und Enttäuschungen, aber auch darüber, was eine Ortsgemeinschaft ausmacht und wie sie ihre Identität sucht und entwickelt.

Der Zufall will es, dass die Zeitpunkte, an denen die Texte verfasst wurden, den jeweils zeit-spezifischen Charakter schön verdeutlichen:
• Trotz der Einschnitte, die der Erste Weltkrieg vor allem für das östliche Ostpreußen mit sich gebracht hatte, zeugt der Bericht aus Stallupönen von einer im Kern ungebrochenen Tradition.
• Im Festprogramm der Jubiläumsveranstaltung des MGV Eydtkuhnen macht sich, wenn auch nicht so sehr in dem hier veröffentlichten Text zur Vereinsgeschichte, das Dritte Reich und sein direkter Zugriff auf das Kulturleben immer wieder bemerkbar. – Hier tritt eine lokale Besonderheit hinzu: Eydtkuhnen war Grenzort nach Russland bzw. Litauen: Das bestimmte den Charakter des Orts und seines Männergesangvereins deutlich.
• Der Rückblick aus Angerburger Sicht, verfasst nach dem Zweiten Weltkrieg und damit nach der Vertreibung, ist gefärbt vom Trennungsschmerz und der Hoffnung auf künftige Rückkehr.