Ludwig Goldstein: Theaterzensur

Theaterdirektor Adolf Varena brachte am 19. November 1910 Frank Wedekinds Frühlings Erwachen als Königsberger Erstaufführung auf die Bühne des Stadttheaters. Wenige Tage später wurden weitere öffentliche Aufführungen durch den Königsberger Polizeipräsidenten untersagt. Dieses Zensurverbot beschäftigte die örtliche Presse mehr als ein Jahr, bis das Berliner Oberverwaltungsgericht die Polizeiverfügung aufhob. Die Zensur des Stücks fand auch reichsweit in der deutschen Presse Niederschlag.

Die Königsberger Proteste gegen den polizeilichen Eingriff wurden in Königsberg vor allem von Ludwig Goldstein getragen, der als Theaterredakteur der Hartungschen Zeitung und als frisch gewählter Vorsitzender der örtlichen Sektion des Goethebundes vehement Partei ergriff. Wegen Goldsteins exponierter Rolle wird das Thema in diesem Portal ihm und nicht dem Stadttheater zugeordnet.

Hier eine Übersicht über den zeitlichen Ablauf der wichtigsten Ereignisse:

19.11.1910 Erste Aufführung von Frühlings Erwachen im Stadttheater
22.11.1910 Aufführungsverbot des Königsberger Polizeipräsidenten
24.11.1910 Ludwig Goldstein reagiert in der Hartungschen Zeitung
25.11.1910 Beschwerde der Theaterdirektion gegen das Verbot
16.12.1910 Vortrag Goldsteins anlässlich einer geschlossenen Aufführung in Stadttheater
21.12.1910 Rückweisung der Beschwerde vom 25.11. durch den Regierungspräsidenten
1911 Klage von Theaterdirektor Adolf Varena beim Oberverwaltungsgericht
29.02.1912 Das Oberverwaltungsgericht Berlin hebt die Verfügung des Königsberger Polizeipräsidenten auf

 

Adolf Varena war als Königsberger Theaterdirektor (1892–1912) bei seiner Programmgestaltung eher bedächtig. Er brachte einerseits künstlerische und wirtschaftliche Gesichtspunkte zu einem gewissen Ausgleich und konnte so die Existenz des Theaters sichern, auf der anderen Seite fehlte es ihm an besonderem Mut bei der Auswahl neuer Theaterstücke, besonders wenn sie anderswo schon kontrovers diskutiert wurden. So traute er sich nicht, Gerhart Hauptmanns heftig umstrittene Weber oder Tolstois Macht der Finsternis auf seine Bühne zu bringen, obwohl die Bedenken der Königsberger Zensur schon ausgeräumt waren.

Anmerkung: Diese Stücke wurden 1901 im Sommertheater Luisenhöh aufgeführt. Zur Macht der Finsternis liegt noch eine Kritik Emil Krauses vor, in der er auf Zernsurfragen eingeht. – Varenas Übervorsicht war ein Argument neben anderen, das zur Gründung des Neuen Schauspielhauses führte. – Zum zögerlichen Verhalten Varenas s. auch die Kritik von Emil Krause in der Hartungschen Zeitung (1902).

Die rechtliche Grundlage für die Theaterzensur liegt weit zurück und ist dem heutigen Leser kaum noch verständlich. Deshalb gibt es hier einen Link, der zu einer kleinen aufklärenden Notiz führt.

Da die örtliche Polizeibehörde zuständig war, hing viel von der Person des lokalen Polizeipräsidenten ab. Am Beispiel von Frühlings Erwachen zeigt sich, wie man in Königsberg kreativ mit solchen Besonderheiten umzugehen verstand. Martin A. Borrmann hat 1955 an Varenas Findigkeit erinnert (Quellenangabe s. Auswahlbibliografie):

Als Varena Frühlingserwachen von Wedekind zu spielen wagte, wurde das Stück vom Königsberger Polizeipräsidenten verboten. Der schlaue Beherrscher des Stadttheaters mietete daraufhin die Bühne eines Vergnügungslokals auf den Hufen, dem bekannten Gelände vor den Toren, und spielte dort das verbotene Werk; denn dieser Vorort war damals noch nicht eingemeindet und unterstand mithin nicht der Zensurgewalt des Königsberger Polizeipräsidenten, sondern der des literarisch unbelasteten Landrats von Fischhausen.

Nachdem das Zensurverbot aufgehoben war, spielte das Stadttheater Wedekinds Stück erstmals wieder am 27. März 1912; bis zum Ende der Spielzeit folgten sieben weitere Aufführungen.

Die Geschichte des Königsberger Zensurverbots wird hier dokumentiert, wie sie in der Hartungschen Zeitung, genauer, wie sie in Fischers Königsberger Hartungschen Dramaturgie (s. Auswahlbibliografie) Niederschlag gefunden hat. Dort gilt ein Abschnitt dem Thema Im Zeichen der Zensurkämpfe (S. 78–126). Die meisten dieser Beiträge werden hier wieder zugänglich gemacht. Einigen Linkverweisen folgt eine kurze Erläuterung. Die Zusammenstellung verdeutlicht auch, dass es innerhalb kurzer Zeit (bis zum Urteil des Oberverwaltungsgerichts) zu mindestens vier Aufführungsverboten kam.

Zum Thema Theaterzensur hat die Hartungsche Zeitung – mehrfach durch Ludwig Goldstein – auch vorher und später engagiert Stellung bezogen. Die Beiträge beziehen sich auf Königsberger Vorgänge oder solche im Reichsgebiet; die letzteren sind bis auf eine Ausnahme im zeitlichen Zusammenhang mit der Königsberger Zensur-Kontroverse über Frühlings Erwachen zu sehen.