EON: Musikszene 1900

Die Königsberger Musikszene 1900

 

Ein Musikkritiker, der um 1900 von Berlin nach Königsberg ging, musste sich vor allem auf folgende Bedingungen einstellen:

  • eine randständige Provinzhauptstadt mit 175.000 Einwohnern
  • eine ihm zunächst fremde, gewachsene Kulturszene
  • Publikum und Kritiker, für die Königsberg und seine kulturellen Institutionen wichtigster Bezugspunkt war, nicht dagegen die aktuelle Diskussion in Kulturzentren wie Berlin, Wien, München oder Leipzig.

Diese Gegebenheiten hat Nodnagel als ausgesprochen „provinziell“ empfunden. Einerseits war er mit ihnen vertraut, denn er war in Darmstadt aufgewachsen, das mit Königsberg manche Merkmale gemeinsam hatte: Hauptstadt des Großherzogtums Hessen-Darmstadt, Sitz eines Hoftheaters und ein relativ überschaubares Kulturangebot. Er hatte diese prägende Umgebung jedoch hinter sich gelassen und inzwischen zehn Jahre in Berlin gelebt als Kritiker, Sänger, Musikschriftsteller und Komponist. Hier hatte er immer die Sache des musikalischen Fortschritts vertreten und manchen Akzent gesetzt.

Nodnagel war neben dem aus Braunschweig stammenden Louis Köhler der einzige Königsberger Musikkritiker von Bedeutung, der nicht aus Ostpreußen stammte. Von außen und im Nachhinein betrachtet war das aus Königsberger Sicht eine Chance, aus Nodnagels ein hohes Risiko. Die Chance blieb – mit Nodnagels Zutun – ungenutzt, was die unmittelbaren Auswirkungen seiner Tätigkeit betrifft.

Mittelpunkt des Königsberger Musiklebens um 1900 war das Stadttheater, Ostpreußens wichtigste Bühne, die einzige, die zu dieser Zeit als Institution, die nur an einem Ort spielte, lebensfähig war. Schauspiel und Musiktheater wurden etwa gleichgewichtig angeboten. Dem Musikkritiker fiel die Aufgabe zu, die Opern- und Operettenaufführungen zu rezensieren. Nicht alle Aufführungen erforderten einen Zeitungsbericht, sondern nur diejenigen einer gerade begonnenen Spielzeit, Erstaufführungen, Neueinstudierungen, wesentliche Sänger-Umbesetzungen im laufenden Spielbetrieb, Gastspiele auswärtiger Künstler und Probeauftritte von Sängern, die für eine Neuverpflichtung in Betracht kamen. Von den etwa 200 erhaltenen Königsberger Kritiken Nodnagels beziehen sich knapp hundert auf das Stadttheater.

Zwei Serien von Orchesterkonzerten waren im Angebot. An erster Stelle die Abonnementsreihe der Königsberger Sinfoniekonzerte unter Leitung von Max Brode. – Daneben gab es seit 1896 den Königsberger Musikverein unter Leitung von Ernst Wendel. – Zu diesen Konzerten mit höherem Anspruch gesellten sich die täglichen Konzerte (oft Blasmusik) im 1896 eröffneten Tiergarten, die meist leichtere Kost boten und nur in Ausnahmefällen eine Kritik zur Folge hatten. Auch Max Brode und Ernst Wendel dirigierten hier gelegentlich in den Sommermonaten.

Es gab drei Kammermusikreihen. Da waren Quartettabende des Brode-Quartetts und des Wendel-Quartetts und vor allem die von der Musikhandlung Jüterbock seit 1872 veranstalteten Königsberger Künstler-Konzerte, eine Veranstaltungsreihe, die einen vorzüglichen künstlerischen Ruf genoss, weil immer wieder auswärtige Spitzenkünstler verpflichtet wurden. Diese Abonnementskonzerte hielten sich bis in den Zweiten Weltkrieg und wurden damit zur traditionsreichsten Königsberger Musikreihe.

Eine größere Zahl von Chören bereicherte das Musikprogramm mit mindestens einem Auftritt pro Jahr, gelegentlich zusammen mit einem der erwähnten Orchester. Dazu gehörten der Verein der Liederfreunde (Ltg.: Ernst Wendel), die Singakademie (Max Brode), der Männergesangverein Melodia (Max Oesten), die Musikalische Akademie (Robert Schwalm), der Domchor (Constanz Berneker) und der Königsberger Sängerverein (Robert Schwalm).

Außerdem gab es Einzelveranstaltungen: Aufführungen der Königsberger Konservatorien, Lieder- und Klavierabende (neben denen im Rahmen der Künstlerkonzerte), Kammermusik, vereinzelt Konzerte auswärtiger Orchester und eine neue Erscheinung: Kabarett in Gastauftritten.

Über alle Ereignisse berichtete Nodnagel; die meisten seiner Kritiken befinden sich im Nachlass: eine bemerkenswerte Quelle zum Königsberger Musikleben um 1900. Da Nodnagel die gedruckten Kritiken ausgeschnitten hat, ist die exakte Datierung nicht immer möglich.